„Visuelle Menschen“ unterscheiden sich von „visuellen Analphabeten“ durch die Art wie sie an Dinge und deren Gestaltung & Visualisierung herangehen.

Wahrnehmung nach dem Erkennen

Zu sehen geht über blosse Identifikation der Objekte hinaus. Sehen ist Wahrnehmung nach dem Erkennen. Und was folgt, wenn ich das Objekt erkannt habe?

Ästhetische Qualitäten

Es sind die ästhetischen Qualitäten, die Gestalter sehen: Farben, Bildaufbau, Raster, Bewegungslinien bis hin zu den Texturen.


(Sketches aus der Vorlesung.)

Wer gestalten und visualisieren will muss lernen zu erkennen, was im Komplex zu sehen ist. Gleichzeitig müssen überkommene Bilder, die der „visuellen Wahrheit“ nicht entsprechen neu geordnet werden. Das ist einfacher gesagt, als getan.

Unser Hirn überlistet uns laufend, damit wir Bilder möglichst schnell erkennen und vermeintlich effektiv zuordnen. Durch die mediale Bilderflut trainieren wir somit täglich einen Prozess, den es beim Zeichnen und Visualisieren gerade zu durchbrechen gilt. Wir „optimieren“ ungewollt einen Sehvorgang, der hauptsächlich auf Zeit und Effizienzmuster ausgerichtet ist. In den meisten Fällen „matchen“ wir dabei aber nur Sequenzen oder Fragmente der Komposition.

Wir suchen eigentlich immer nur nach passenden „Treffern“, nach Bildmustern in schon zuvor im visuellen Gedächtnis gespeicherten Bildern. Erfolgt ein vermeintlicher Treffer, glauben wir „es“ gesehen zu haben.

Aber hat die Wahrnehmung damit den Bildinhalt tatsächlich erkannt und dann wahrgenommen? Wie schon gesagt: Sehen ist Wahrnehmung nach dem Erkennen. Wenn wir beim Visualisieren die gestalterischen Elemente erkennen wollen, müssen wir uns also von diesem auf Schnelligkeit und Verkürzung getrimmten Wahrnehmungsprozess bewusst zu lösen versuchen und das Sehen damit entschleunigen. Das ist nicht ganz einfach, aber entsprechendes Training bringt tangible Resultate.

Zuerst müssen wir zu erkennen versuchen, dass die Sache wahrscheinlich nicht wirklich so aussieht, wie wir das nach dem „Fast Scan“ vom Hirn als erdacht und nicht gesehen geliefert bekommen. Für Ungeübte sieht ein gezeichnetes Auge wahrscheinlich aus wie eine Mandel mit einem Punkt. Ein Mund hat die Form eines Halbrund, je nach Emotion nach oben oder unten geformt. Und diese erdachten bzw. aufgerufenen Formen zeichnen wir dann so nach und erschrecken häufig, dass das Ergebnis unbeholfen aussieht. Dann kommt jeweils der Satz: „ich kann einfach nicht zeichnen …“

Auflösung undifferenzierter Bildzeichen

Es gilt hier durch Entschleunigung und gleichzeitige Auflösung undifferenzierter Bildzeichen einen gestalterischen Blick zu entwickeln, der komplexeres Zeichnen durch gezielte Linienführung ermöglicht.

Wir zerlegen das Auge in seine Einzelteile. Die Augenbraue scheint meistens aus einer aufsteigenden und dann wieder absteigenden Linie zu bestehen. Also konzentrieren wir uns genau auf diese Zweiteilung und fragen: „Wo liegt der Wendepunkt der Linie?“

Auf die gleiche Art ist auch die Lidfalte aufgebaut. Sie steigt an, um dann wieder zu sinken.

Jetzt wird es leichter, wenn wir den oberen Lidrad skizzieren, ist schon recht einfach erkenntlich, dass auch dieser aus mindestens zwei Richtungen aufgebaut ist.

Wenn zu dieser langsamen Analyse mit der ständigen Frage im Hinterkopf: „Was macht eigentlich die Linie? Steigt sie an, fällt sie?
Und wie verhält sie sich? Ist die Linie krakelig, geschwungen, hart, schnell, dunkel, dick oder fein ..?“
Auf diese Weise kann man sich der langsamen Sichtweise – also dem gestalterischen Blick nähern.

Der Rest ist Beobachtung und gezielte Aufmerksamkeit für Details.

So wird dann – mit der Zeit – klar, dass das verkürzte Modell der Mandelform des Auges ausgedient hat.

Und wem das nicht so leicht fällt, der sollte es mit dem alten Trick versuchen. Ein Auge schliessen, denn dann erzeugt man aus einer dreidimensionalen Ansicht ein zweidimensionales Bild. Das macht das Erkennen bedeutend leichter.

Versuchen Sie es doch selber einmal und dann immer wieder!

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